Selen und Schilddrüsengesundheit




Selen zählt wie Jod zu den für den Menschen lebensnotwendigen Spurenelementen. Bereits vor 20 Jahren ergaben sich Belege hinsichtlich einer essentiellen Bedeutung von Selen für die Schilddrüsengesundheit. Kinder aus Selenmangelgebiete im ehemaligen Belgisch-Kongo zeigten schwere Schilddrüsenveränderungen im Sinne einer „Verkümmerung“ des Organs. Bei gleichzeitigem Jodmangel litten die Kinder zudem unter Kretinismus, d.h. unter schweren körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen. Eine kombinierte Gabe von Jod und Selen konnte bei den Kindern die Schilddrüsenfunktion aufrechterhalten und den Kretinismus verhindern. Durch eine alleinige Jodzufuhr war dies nicht möglich (Goyen et al. 1987, Contempre et al. 1992, Contempre et al. 1993, Contempre et al. 1995, Contempre et al. 1996).

Selen ist ein funktionell notwendiger Bestandteil von Enzymen (Flohé et al. 1998, Flohé et al. 2000). Enzyme sind Biokatalysatoren, die bestimmte Reaktionen und Stoffwechselprozesse im Körper in Gang setzen. Als Bestandteil solcher Seleno-Enzyme erfüllt Selen lebenswichtige Funktionen. In der Schilddrüse kommen verschiedene Seleno-Enzyme in hoher Konzentration vor. Das erklärt, warum die Schilddrüse zu den Körperorganen mit dem höchsten Selengehalt zählt.

Seleno-Enzyme der Schilddrüse sind zum einen Deiodinasen, die das Schilddrüsenhormon T4 (Thyroxin) in das stoffwechselaktivere Schilddrüsenhormon T3 (Triiodthyronin) umwandeln (Behne et al. 1990, Berry et al. 1991). Zum anderen ist Selen Bestandteil von Gluthathionperoxidasen (GPx), d.h. von Enzymen, die die Schilddrüse vor Zellschädigungen schützen. Zellschäden können durch so genannte Freie Radikale ausgelöst werden. Das sind hochreaktive Verbindungen, die bei der Schilddrüsenhormonbildung anfallen und durch GPx abgebaut und unschädlich gemacht werden (Cheng et al. 1999, Köhrle et al. 2000 und 2005).

Deiodinasen werden auch bei mildem Selenmangel noch unverändert gebildet. Eine verminderte Aktivität besteht bei schwerem Selenmangel, der in Deutschland praktisch nicht vorkommt (Köhrle et al. 2000, Kucharzewski et al. 2002). Glutathionperoxidasen reagieren empfindlicher. Ein Selendefizit lässt sich anhand verminderter GPx-Aktivität im Blut nachweisen. Nach letzten Studien ist in Deutschland und anderen europäischen Ländern von einem verbreiteten milden bis moderaten Selenmangel auszugehen (Rayman 2000).

Selen muss mit der täglichen Nahrung aufgenommen werden, der Bedarf ist noch nicht exakt bekannt. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (2000) gibt die Schätzwerte für eine angemessene Zufuhr mit 30-70 Mikrogramm (µg)/Tag (Erwachsene) an. Möglicherweise ist damit kein Optimum für alle Enzymwirkungen und Schutzfunktionen des Selens zu erreichen.

Selenhaltige Lebensmittel sind Fleisch, vor allem Innereien (z.B. Niere, Leber) und Hühnereier (Elmadfa et al. 2006/07). Die Selengehalte in diesen Lebensmitteln ergeben sich durch die in der EU erlaubten Selenzusätze zu Mineralstoffmischungen für Nutztiere. Denn Nutztiere sind bei Selenmangel krankheitsanfälliger und weniger gut reproduktionsfähig.

Wegen des Selenvorkommens im Meerwasser sind Fisch und Meerestiere natürlich selenreich (Schrauzer 1998). Selen kommt auch in Getreideprodukten und Gemüse vor. Allerdings sind die Gehalte meist gering, da unsere Böden selenarm sind und Selen zudem aus den Böden und Anbauflächen für Nutzpflanzen schlecht verfügbar ist.

Die Selenzufuhr Erwachsener liegt in Deutschland bei 35 – 50µg/Tag. Gemessen an der GPx Aaktivität im Blut ist dies aber zu wenig (Raymann 2000).

Besondere Risiken für einen Selenmangel bestehen bei vegetarischer bzw. veganischer Ernährung, bei bestimmten Darmerkrankungen, schweren Allgemeinerkrankungen und selenfreier künstlicher Ernährung (Schrauzer 1998, Angstwurm 2006).

Eine kürzlich veröffentlichte französische Studie zeigte, dass Frauen mit sehr niedrigen Selenblutspiegeln signifikant kleinere Schilddrüsen haben und im Ultraschall ein für die Autoimmunentzündung der Schilddrüse typisches Untersuchungsergebnis aufweisen (Derumeaux et al. 2003).

In Untersuchungen aus Norwegen konnte nachgewiesen werden, dass ein Selenmangel mit einer hohen Erkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs einhergeht (Glattre 1989). Dies ist insofern erklärbar, da das Gewebe bei eingeschränkter GPx-Schutzwirkung einem höheren Risiko für Schädigungen und Veränderungen des Erbguts (DNS) und damit für bösartige Veränderungen ausgesetzt ist. Das hat sich auch in anderen Organen wie Dickdarm, Prostata und Brustdrüse der Frau gezeigt (Schrauzer 1998, Ganther 1999). In Frankreich und den USA sind inzwischen langfristige Untersuchungen begonnen worden, um zu klären, ob Selengaben die Krebserkrankungshäufigkeit von Prostata- und Dickdarmkrebs senken können (Rayman 2000).

Möglicherweise spielt ein Selenmangel auch bei der Entstehung von gutartigen Schilddrüsenknoten eine Rolle. Die Schilddrüse gehört zu den Organen mit dem höchsten Vorkommen an Knotenbildungen (Neoplasien) (Köhrle 2005).

Selensupplementation bei Autoimmunentzündung der Schilddrüse
Eine Autoimmunentzündung (=Autoimmunthyreoiditis) der Schilddrüse beruht auf einer Fehlfunktion des Immunsystems. Die Abwehrkräfte (Immunzellen und Antikörper) richten sich gegen den eigenen Körper, so sind bei den Patienten spezifische Antikörper gegen Enzyme (Peroxidasen) des Schilddrüsenstoffwechsels und gegen Thyreoglobulin, die Speicherverbindung der Schilddrüsenhormone, nachweisbar. Die Schilddrüsenentzündung führt zur Unterfunktion des Organs, die Patienten werden daher mit Schilddrüsenhormonen (Thyroxin, T4) behandelt.

In Untersuchungen an der Medizinischen Klinik der Universität München ging es um die Frage, ob Patienten mit akuter Autoimmunthyreoiditis von einer Selengabe profitieren können. Die Patienten erhielten dazu über 3 Monate 200 µg Selen (in Form von Natriumselenit) pro Tag zusätzlich zu einer Thyroxinbehandlung (Gärtner et al. 2002).

Bei den Patienten unter T4- und Selengabe stiegen die Selenblutspiegel signifikant an, blieben aber im Normbereich und im Vergleich zu Patienten unter alleiniger T4-Behandlung sank die Peroxidase-Antikörperkonzentration signifikant auf 64% des Ausgangswertes. Bei einem Teil der Patienten mit Selensupplementation normalisierte sich außerdem der Ultraschallbefund der Schilddrüse. Auch gaben die Patienten an, sich allgemein besser zu fühlen, weniger unter Allergien und anderen Autoimmunerkrankungen zu leiden. Wurden die Selengaben abgesetzt, kam es im Verlauf von 3 Monaten zum Wiederanstieg der Antikörperkonzentrationen im Blut (Gärtner et al. 2004).

In einer vergleichbaren Studie in Griechenland wurden diese Ergebnisse betätigt. Es wurden dort 200 µg Selen in Form von Selenmethionin (Selen-Hefe) pro Tag gegeben. Auch hier kam es zum signifikanten Abfall der Peroxidase-Antikörperbildung, und zwar um 46% nach 3 Monaten und um 55,5% nach 6 Monaten (Duntas et al. 2003).

Zukünftige Untersuchungen sollen zeigen, ob es auch bei anderen Schilddrüsenerkrankungen wie Morbus Basedow (Form der Schilddrüsenüberfunktion) unter Selengabe zu Therapieerfolgen kommt. Die mögliche Empfindlichkeit von Patienten mit Autoimmunthyreoiditis gegenüber höheren Jodzufuhren kann sehr wahrscheinlich durch eine ausreichende Selenzufuhr verhindert werden. Dies ist von allem, was wir bisher über die Bedeutung von Selen für die Schilddrüse wissen, gut begründbar, muss aber in Studien noch belegt werden.

Literatur beim Verfasser.

Verfasser: Prof. Dr. med. Roland Gärtner, Medizinische Klinik Innenstadt der Universität München, Ziemssenstraße 1, 80336 München, Tel 089/ 5160-2332, Fax 089/ 5160-4430, E-mail: roland.gaertner@med.uni-muenchen.de